Günther Uecker (1930–2025)

Mit großer Trauer nehmen wir Abschied von Günther Uecker – einem der prägenden Künstler unserer Zeit, einem humanistischen Denker, engagierten Mentor und Namensgeber unseres Instituts. Günther Uecker hat uns mit seiner Offenheit, seinem lebendigen Geist und seiner Neugier begleitet. Für viele Stipendiat*innen war er nicht nur eine künstlerische Referenz, sondern ein Gegenüber, das Anteil nahm, Fragen stellte und zum Weiterdenken ermutigte. Auch der Besuch in seinem Atelier im Winter 2023 – gemeinsam mit unseren Alumni und Gästen – war ein bewegender Moment. Günther Ueckers Haltung war geprägt von Zugewandtheit, Ernsthaftigkeit und dem unerschütterlichen Glauben daran, dass Kunst eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft trägt.Diese Haltung prägt die Arbeit unseres Instituts bis heute. Wir sind dankbar für das Vertrauen, das Günther Uecker uns geschenkt hat – und für das Vermächtnis, das in seinem Werk, in seinen Gedanken und in der Inspiration weiterlebt, die er vielen von uns mit auf den Weg gegeben hat. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen, die ihm nahestanden.

Mit dem Tod von Günther Uecker verliert die Kunstwelt eine ihrer prägenden Stimmen – von der deutschen Nachkriegsmoderne bis in unsere Gegenwart. Geboren 1930 in Wendorf (Mecklenburg), wurde Uecker durch seine ikonischen „Nagelbilder“ international bekannt. Doch sein Werk reicht weit über dieses prägnante Ausdrucksmittel hinaus. Es ist das eindrucksvolle Zeugnis einer künstlerischen und existenziellen Transformation – von der Erfahrung der Zerstörung hin zur Form, vom Umgang mit persönlichem und kollektivem Trauma zu einem universellen Ausdruck von Menschlichkeit im künstlerischen Werk.

Als Kind erlebte Uecker den Zweiten Weltkrieg in seiner zerstörerischen Unmittelbarkeit. Nach einem Studium in Wismar und Ostberlin verließ er 1953 die DDR und ging in die Bundesrepublik. Dort nahm er ein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf auf (1955–1957). Früh wandte er sich von der gegenständlichen Darstellung ab und suchte in Licht, Bewegung und Material neue Wege des Ausdrucks. Die Malerei wurde für ihn zu einem vieldimensionalen Handlungsraum mit einer ungewöhnlichen Disposition von Spuren: In seinen Fingermalereien tastete er sich über die Leinwände, schuf mit Nägeln Rillen und Aufwerfungen auf denselben. Mit den ab Ende der 1950er Jahre entstehenden Nagelreliefs entwickelte er dann seine singuläre künstlerische Handschrift: Tausende Nägel, rhythmisch in die Oberfläche eingeschlagen, bilden vibrierende Felder, die das Licht brechen, Schatten werfen und den Raum mit einbeziehen. Es sind keine statischen Objekte, sondern energetische Strukturen – pulsierende Oberflächen mit überraschendem „Schwarmverhalten“, die in ihrer organischen Bewegungskraft einen eigenen ästhetischen Kosmos eröffnen. Das großformatige Werk Weißer Schrei aus der Schweriner Sammlung (1991) ist ein Beispiel für ein spätes Hauptwerk dieser lebenslangen Auseinandersetzung.

1958 schloss sich Uecker der Künstlergruppe ZERO an, gemeinsam mit Heinz Mack und Otto Piene. Seinen ersten öffentlichen Auftritt in diesem Kontext hatte er mit der Ausstellung Das rote Bild. ZERO war mehr als eine Stilrichtung – es war ein radikaler künstlerischer Neubeginn in einer tief verunsicherten Gesellschaft. In einer Zeit, in der Deutschland mit der Hypothek der nationalsozialistischen Vergangenheit rang, suchten diese Künstler nach einem „Nullpunkt“ – einem ästhetischen und ethischen Ausgangspunkt jenseits der historischen Last. Ueckers Werke sind tief in diesem Spannungsfeld verankert: Sie verweisen auf Zerstörung, Verletzung und Gewalt, ohne selbst destruktiv zu sein. Sie machen einen tastenden, suchenden Prozess sichtbar, der über die reine Form hinausweist, ohne das Menschliche preiszugeben. Uecker war zwischen 1961 und 1966 fest mit der Gruppe verbunden. In dieser Zeit experimentierte er mit den Möglichkeiten der Aktionskunst – etwa mit dem groß angelegten Terrororchester oder auch temporären Projekten wie Museen können bewohnbare Orte sein, das er gemeinsam mit Gerhard Richter realisierte. Hier stellten sich die Künstler zusammen mit ihren Werken aus und lebten für einige Tage in der Institution.

Ab den 1970er Jahren rückten zunehmend politische Themen ins Zentrum seines Schaffens. Das ist auch die Zeit, in der er seine Professur in Düsseldorf annahm (1974–1995). Seine raumgreifenden Installationen zu Krieg, Unterdrückung und ökologischen Katastrophen – etwa zum Vietnamkrieg, später zu Tschernobyl, den rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992, bis hin zu den Terroranschlägen des 11. September – verlagerten den tief eingeschriebenen humanistischen Impuls seiner Kunst in eine neue ethische Dimension. Ueckers Werk blieb dem Menschen verpflichtet, ohne je ins Appellative oder Illustrierende zu kippen. „Die Verletzung des Menschen durch den Menschen“, wie er es nannte, bildete den Ausgangspunkt einer mitunter schmerzvollen Auseinandersetzung. In seinen späten Arbeiten – etwa den großformatigen Sandzeichnungen – beschritt er meditative, nahezu kontemplative Wege und zeigte, dass Reduktion nicht notwendigerweise Verzicht bedeutet, sondern auch Konzentration und innere Weite entstehen lassen kann.

Günther Ueckers Bedeutung für die deutsche und internationale Kunstlandschaft kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Seine Werke waren auf allen großen Ausstellungen der Gegenwartskunst präsent – von der documenta bis zur Biennale von Venedig – und sind in den bedeutendsten Museen der Welt vertreten. Und doch liegt seine Leistung auch jenseits solcher Stationen: in der Überführung einer verletzten und geteilten Nachkriegskultur in eine künstlerische Sprache der radikalen Offenheit, der Bewegung im Werk und in dessen Rezeption sowie der aufmerksamen Übertragung von Denken und Fühlen in Form. Günther Uecker ist am 10. Juni 2025 im Alter von 95 Jahren verstorben.